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1648 – 1794

St. Goarshausen unter den Landgrafen von Hessen-Rheinfels-Rotenburg

In dem Friedensjahr 1648, das die politischen Verhältnisse Deutschlands völlig neu gestaltete, zugleich aber auch die verhängnisvolle Ohnmacht und Zersplitterung des Reiches schuf, kam zwischen den beiden hessischen Häusern ein Familienvergleich zustande, in welchem Darmstadt die Niedergrafschaft Katzenelnbogen mit Rheinfels und Katz den Kasselern endgültig abtrat. Diese nahmen nun ihrerseits eine neue Verteilung vor. Der verstorbene Landgraf Moritz von Kassel hatte seinem Sohn aus erster Ehe, Wilhelm V., mit Vertrag vom 12. Februar 1627 die Regierung übergeben, jedoch unter der Bedingung, daß letzterer den Söhnen aus Moritz zweiter Ehe (mit Juliane von Nassau-Dillenburg) den vierten Teil des Landes abtrete. Dieser Gebietsteil hieß nach dem Residenzort der neuen Landesherren die “Rotenburger Quart“. Ihr wurde nachträglich die Niedergrafschaft Katzenelnbogen mit den Ämtern Rheinfels, Reichenberg und Hohenstein angegliedert, allerdings mit dem Vorbehalt, daß die militärische Oberhoheit über diese Ämter, vor allen Dingen die Garnison auf Rheinfels und Katz dem alten Hause Hessen-Kassel verbleiben sollten.
Und nun begann wieder die alte Katzbalgerei, bei dem das Volk das Karnickel war. Denn die Rotenburger legten gegen jenen Vorbehalt beim Kaiser Verwahrung ein und es kam zu einem neuen Vergleich, wonach dem Hause Hessen-Rotenburg außer den landesfürstlichen Rechten wie Gerichtsbarkeit, Judenschutzgelder, Landzöller, Leibeigenschaftsgerechtsame, Rheinzollanteil, Salmfang, Kronguterträge usw. das Besetzungsrecht von Rheinfels und Katz zustehe, während das Haus Kassel das Heeranwerberecht, die Steuern, die Münzgerechtigkeit, die Aufsicht über die evangelischen Kirchen und Schulen usw., sowie das Recht behalte, über die Burgen Rheinfels und Katz “in notwendigen und vermeidlichen Reichs- und Kriegsfällen“ verfügen zu dürfen. Wie man sieht, ein Vertrag, bei dem jeder Teil heimlich seinen Knüppel in der Hand behielt. St. Goar erhielt von Kassel einen eigens angestellten Beamten, den sogenannten “Reservatenkommissarius“, der wie ein Luchs aufpaßte, daß die Rotenburger nicht in die vorbehaltenen Rechte der Kasseler eingriffen. Sobald er etwas merkte, regnete es gepfefferte “Dekrete“.
Es liegt auf der Hand, daß unter diesen Verhältnissen ein Dauerfriede unter den hohen Herrschaften ein Ding der Unmöglichkeit war. Es kam denn auch zu fortgesetzten Rechtsstreitigkeiten, und die gegenseitigen Reibereien und Katzbalgereien dauerten zum Ergötzen des In- und Auslandes noch ein ganzes Jahrhundert an und fanden erst ein Ende, als die Weltgeschichte den ganzen Marionettenspuk weggekehrt hatte.
Unser Städtchen St. Goarshausen, das daran gewöhnt war, sozusagen alle vierzehn Tage mit einem neuen Landesvater beglückt zu werden, war durch die Neuordnung der Dinge nunmehr unter die Herrschaft der Landgrafen von Hessen-Rheinfels-Rotenburg – sie nannten sich auch kurz: Hessen-Rheinfels – gekommen und behielt diese bis zum Schluß der landgräflichen Herrlichkeit.
Der erste Landesvater aus diesem Hause war Landgraf Ernst (1649 – 1693), der am 1. April 1649 seinen Einzug in St. Goar hielt. Er leistete der Bürgerschaft den Eid, sie bei ihren Freiheiten und Vorrechten zu belassen, wofür ihm der Stadtrat mit kräftigem “Heil und Humpen“ einen Ehrentrunk in silbernem Pokal darbrachte, und ihm den Becher stiftete.
Landgraf Ernst nahm seinen amtlichen Herrschersitz auf Rheinfels, weilte aber im Sommer meistens in Bad Schwalbach, das er sehr förderte. Es darf zu seinen Ehren gesagt werden, daß er keiner von den „Despötchen von Gottes Gnaden“ war, wie sie damals sich auf zahllosen deutschen Thronen und Thrönchen breitmachten und ihre Untertanen drangsalierten, sondern ein wohlwollender, aufgeweckter, liebenswürdiger und wissenschaftlich begabter Herr, dessen lange Regierungszeit für das durch den dreißigjährigen Krieg zerrüttete und entvölkerte Land zum großen Segen wurde. Er förderte Handel und Gewerbe, sorgte für wohltätige Stiftungen und wußte durch Zuzug von außerhalb die beiden Städtchen St. Goar und St. Goarshausen wieder zu neuem Leben zu bringen.
Seiner großen Baulust verdankte St. Goar nicht nur eine ganze Reihe hervorragender amtlicher Bauten, sondern er nahm sich auch mit besonderer Liebe der Feste Rheinfels an, die er gründlich ausbessern und mit umfangreichen neuen Befestigungswerken – die Ernst-Schanze trug seinen Namen – versah. Allerdings kostete ihn dies alles eine Unsumme Geld. Man hat berechnet, daß er mit seinen Bauten nicht weniger als 2 Millionen Taler landschaftliche Gelder und außerdem noch 200.000 Taler aus eigenen Mitteln unter die arme Bevölkerung gebracht hat.
Sein Andenken ist noch in dem prächtigen, aus Silber getriebenen Becher erhalten, den er im Jahre 1683 dem altberühmten Hanse-Orden zu St. Goar gestiftet hat und den dieser heute noch bei seinen humorvollen “Taufhandlungen“ benutzt. Die landesväterliche Fürsorge des Fürsten ging so weit, daß er, um dem mit der Besserung der Lebensverhältnisse wieder einreißenden bürgerlichen Aufwand zu steuern, sogar in das Eigenleben der Bürger eingriff. So bestimmte er, daß bei Verlobungen in der Stadt nicht mehr als 6, in den Dörfern aber nur 4 Personen geladen und nur mit 4, höchstens 6 Speisen bewirtet werden durften. Bei Hochzeiten waren höchstens 3 Tische mit je 10 Gästen gestattet. Auch durften bei den Hochzeiten nicht mehr, wie früher auf dem Land üblich, 8 oder gar 14 Tage lang geschmaust und gezecht werden, sondern nur noch einen Tag. Die unmässigen Fressereien und das tagelange Saufen sollten aufhören. Nachspeisen und kostbare Specksuppen waren bei 10 Gulden Strafe verboten. Um 9 Uhr abends mußte mit dem Tanzen und Trinken Schluß sein. Auch war zur Vermeidung von überflüssigen Kosten das Schenken von sogenannten Brautstücken, Hemden und Sacktüchern an junge Eheleute verboten. Ebenso mußten bei Kindertaufen die mißbräuchlichen und kostspieligen Schenkereien aufhören, und zu dem Taufessen durften nur die Eltern und Geschwister nebst den bei der kirchlichen Handlung anwesend gewesenen “Gevattern“ teilnehmen. Endlich sollte auch bei Begräbnissen das sogenannte “Leidvertrinken“ (Im Volk nennt man es auch das “Fellversaufen“) strengstens untersagt sein.
Alle diese vortrefflichen Eigenschaften, wie sie in jener selbstherrlichen Zeit bei kaum einem anderen deutschen Kleinfürsten anzutreffen waren, dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Bild des Landgrafen Ernst Zwiespältigkeiten aufwies, die sein Ansehen bei den Zeitgenossen stark trübten. Man kann auf ihn das Schillerwort anwenden: “Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“ Ein noch treffenderes Wort hatte die durch ihre derbhumorigen Briefe bekannte Liselotte von der Pfalz, eine nahe Verwandte des Landgrafen, geprägt. Sie schrieb am 20. Oktober 1718 in einem Brief: “Die Rheinfelser haben alle einen Schuß.“ So erregte es nicht wenig Aufsehen, daß Landgraf Ernst die geheiligte Überlieferung des Hauses Hessen und das reformatorische Erbe seines großen Ahns Philipp des Großmütigen zerbrach und zur katholischen Kirche zurückkehrte. Schlimmer aber noch war, daß er in späteren Jahren mit der Absicht umging, die Burgen Rheinfels und Katz an den Franzosenkönig Ludwig XIV. zu verkaufen. Er selber stritt dies zwar ab, aufgefangene Briefe, die an das Kasseler Haus ausgeliefert wurden, und Papiere, die man später in einem Geheimfach auf Burg Rheinfels fand, bestätigen, daß er dem König das Anerbieten gemacht hatte, ihm die beiden Burgen einschließlich Kriegsvorrat für die Summe von 100.000 Reichstaler, zahlbar in Venedig, zu überlassen. Vermittler bei dieser schmählichen Angelegenheit war der Kardinal von Fürstenberg.
Wie es um das nationale Gefühl der deutschen Kleinfürsten jener Zeit stand, geht daraus hervor, daß der Landgraf sich nicht scheute, seinen Brief vom 26. Juni 1667 an den Vertreter Ludwig XIV. mit den Worten zu schließen:
“Ich rufe Gott an, daß er die unschätzbare und geheiligte Person Eurer Majestät in seinen allerheiligsten Schutz nehme, der ich niemals aufhören werde zu seyn –
Eurer Majestät
Untertänigst gehorsamster Diener
Prinz Ernst, Landgraf zu Hessen.
Wenn ein deutscher Reichsfürst es fertig brachte, sich in solcher Form vor einem ausländischen Herrscher zu erniedrigen, so darf man sich nicht wundern, daß dieser schließlich das ganze deutsche Reich als etwas Minderwertiges betrachtete und danach handelte. Aber war die fürstliche Liebesdienerei später unter Napoleon etwa anders? Geschichtsforscher haben sich schon oft den Kopf zerbrochen, wie es möglich war, daß ein Fürst von sonst ehrenhaftem Charakter, großer Frömmigkeit und wahrhaft väterlicher Liebe für sein Volk sich des Verbrechens schuldig machen konnte, deutsches Land an Ludwig XIV. verschachern zu wollen. Daß deutsche Reichsstände sich von Frankreich Hilfsgelder zahlen ließen, war zwar nicht neu, aber die Ursachen mögen bei Ernst woanders zu suchen sein. Zunächst mag es die riesige Schuldenlast gewesen sein, die der Landgraf infolge seiner überschwenglichen Bausucht auf dem Halse hatte und aus der er nicht mehr herauszukommen wußte. Dazu kam der Ärger über die ewigen Quengeleien mit seinen Kasseler Vettern, die ihm den Besitz gründlich verleideten. Und schließlich mochte es die Furcht gewesen sein, eines Tages doch noch von dem französischen König überfallen und gekröpft zu werden, also das zwergenhafte Gefühl der Ohnmacht vor der drohenden Vergewaltigung, im Verein mit dem Bewußtsein des Verlassenseins seitens des Reiches und des deutschen Kaisers, dem der Schutz seiner Habsburger Stammlande gegen die Türkengefahr näher lag als die Not eines deutschen Kleinfürsten. Alles das wäscht ihn zwar von der Schuld nicht rein, aber man glaubt, daß es nur diese Gründe waren, die ihn zu dem verhängnisvollen Schritt getrieben hatten. Zum Glück zerschlug sich der Kuhhandel, der, wäre er zustande gekommen, ein unauslöschliches Schmachblatt in rheinischer Geschichte geworden wäre. Dem “Sonnenkönig“, erschien die geforderte Summe zu hoch.
So machte der Franzose denn, um das um seine Gunst winselnde Landgräflein nicht allzu sehr zu kränken, ihm in gnädiger Herablassung den Gegenvorschlag, ihm eine lebenslängliche Rente von jährlich 6 – 8 000 Talern zu bewilligen, was dieser aber unter Hinweis auf sein vorgeschrittenes Alter ablehnte.
St. Goar und St. Goarshausen sind auf diese Weise um Haaresbreite dem Schicksal entgangen, eine französische Kolonie von Ludwig des Vierzehnten Gnade zu werden.
Daß übrigens der Landgraf mit seinen Befürchtungen recht hatte, bewiesen schon die nächsten Jahre. Schon in den Jahren 1684 und 1688 hatten die Franzosen wiederholt Überfälle auf Rheinfels versucht, wurden aber mit blutigen Köpfen abgewiesen. Als aber Ludwig XIV., im Vertrauen auf die deutsche Michelei, im Jahre 1689 seinen großen Raubzug unternahm, die Pfalz und Heidelberg verwüstete, die deutschen Kaisergräber zu Speyer schändete, die rheinischen Burgen zerstörte und nach dem ganzen Rheine gierte, getreu dem Richelieu’schen Rezept, daß der Rhein die deutsche Grenze sein müsse, da nahm die Sache auch für Rheinfels und Katz ernstere Formen an, denn Ludwig XIV. wußte, so lange er die beiden Bollwerke am Mittelrhein nicht hatte, waren ihm die Flügel beschnitten.
So kam das Jahr 1692 heran, und mit ihm die denkwürdige Belagerung der beiden Burgen, die vom 17. Dezember 1692 bis zum 2. Januar 1693 dauerte und deren sieghafte Abwehr den heldischen Glanzpunkt in der Geschichte beider Burgen bildete und zugleich für das Schicksal Deutschlands von großer Bedeutung war.
Zum Glück hatte das Haus Hessen-Kassel damals in dem Landgrafen Karl einen tatkräftigen Herrscher, der unbeirrt von dem saumseligen Vetter Ernst die Burgen in wehrhaften Zustand versetzt und auch sogleich mit der Aufstellung eines Ersatzbeeres begonnen hatte.
Oberbefehlshaber der Franzosen war Generalleutnant Graf Tallard. “Ich werde die Ehre haben, Eurer Majestät die Schlüssel von Rheinfels und Katz als Neujahrsgeschenk zu überreichen!“ hatte der siegessichere General dem Sonnenkönig versprochen. Das Versprechen war leider etwas voreilig, wie die Ereignisse später bewiesen.
Rheinfels stand unter der Führung des tapferen hessen-kasselschen Generalmajors Georg Ludwig Sittich von Schlitz, genannt von Görz. Auf der Katz lag eine verstärkte Kompanie des Regiments Prinz Karl unter dem Befehl des Hauptmann Luck. An Geschützen hatte sie 6 Stück.
Daß Görz sich mit dem Landgrafen Ernst bis zum letzten dringlichsten Augenblick herumstreiten mußte, um mit seinen Truppen überhaupt in die Feste Rheinfels hereingelassen zu werden, stellt dem Verhalten des letzteren auch in diesem Falle kein rühmliches Zeugnis aus. Schließlich, als sich schon die französischen Vortruppen der Burg näherten, blieb dem Zauderer keine andere Wahl. Er flüchtete sich über den Rhein nach Langenschwalbach und überließ General von Görz die Verteidigung von Burg und Stadt. Auf Rheinfels und Katz lagen etwa 4000 Mann, während das französische Heer 30.000 Mann stark war. Dazu ein gewaltiger Artilleriepark, der von der französischen Moselfestung Montroyal her mit großer Mühe über den Hunsrück herangeschleppt worden war.
Schon am ersten Tag ereignete sich ein dramatischer Vorfall, der in seiner Art an Tell und Geßler erinnert und als heldische Anekdote noch heute im Volksmunde lebt. Der Held dieses Zwischenfalls ist der Bürgerschütze und Drechslermeister Johann Kretsch von St. Goar. Als nämlich die Franzosen nach ihrem Versuch, die Stadt vom Wackenberg aus zu überrumpeln, mit Verlust von mehreren Toten und Verwundeten zurückgeschlagen worden waren, stand Kretsch als Wachposten auf der Brüstung des hohen Turmes der Stiftskirche. Plötzlich gewahrt er an dem Rande des Wackenbergs einige zur Besichtigung des Geländes erschienene französische Offiziere, darunter einen, den er seines großen Federbusches wegen für den höchsten unter Ihnen hielt. Er legte seinen Doppelhaken (schweres Gewehr) an, zielt, drückt los und —trifft mit seiner Kugel General Tallard – denn dieser war es – oben in die Brust. Bei einer Entfernung von etwa 200 Metern für die geringe Tragweite der damaligen Schießwaffen ein wahrer Meisterschuß.
Graf Tallard wurde schwer verletzt fortgeschafft und wenn der Fall auch die beginnende Kampfhandlung nicht hinderte – den Oberbefehl übernahm an Tallards Stelle jetzt Generalmajor de Choisy – so fehlte den Franzosen doch der überragende Kopf, dessen Verlust auf das ganze Geschehen ohne Zweifel von Einfluß war. Vielleicht verdankt man dem Vorfall einen großen Teil des Sieges.
Zur Belohnung ernannte Landgraf Karl von Hessen-Kassel den wackeren Kretsch zum Hauptmann der städtischen – Schützenkompanie und stiftete zugleich einen Geldbetrag, damit zur Erinnerung an den bedeutungsvollen Tag alljährlich ein zünftiges Schützenfest gefeiert werde. Als ob sie den ihnen angetanen Schimpf rächen wollten, richteten die Franzosen nunmehr ihre ganze Stoßkraft auf Rheinfels, das sie mit ihrer ganzen Heeresmacht berannten, dabei aber auf eine Gegenwehr stießen, die sie bei ihren bisherigen Raubzügen anscheinend nicht gewohnt gewesen waren. Schon waren unter der gewaltigen Beschießung, die sie aus ihren Feuerschlünden von allen ringsum liegenden Höhen auf die Burg eröffneten, verschiedene Befestigungswerke samt dem großen Turm und den Wohngebäuden zusammengesunken. Auf der Katz war das ganze Dachwerk abgebrannt. Aber die Tapferkeit der Belagerten unter der tatkräftigen Führung des Generals von Görz, der wiederholt selbst in den Kampf eingriff, vereitelte jeden Versuch, die stolze Feste Rheinfels zu überwinden.
Eine wirksame Unterstützung fand diese durch die Katz, deren Geschütze die Batterien auf dem gegenüberliegenden Wackenberg zum Schweigen brachten. Nicht weniger halfen die auf der Patersberger Höhe (1 Batterie mit 4 :Geschützen) sowie auf dem Nocherner Berg (12 Halbkartaunen für 24 pfundige Kugeln aufgestellten Geschütze mit. Es mag für die Bewohner unseres kleinen Städtchens, die in ihren Häusern zusammengepfercht saßen und dem furchtbaren Geschützkampf zuhörten, ein merkwürdiges Gefühl gewesen sein, wenn über ihre Dächer die schweren 24 Pfünder heulten und drüben zerkrachten. Und doch blieb ihnen nichts anderes übrig, als stillzuhalten und das Schicksal abzuwarten.
Als Schutz standen auf dem St. Goarshäuser Ufer 3000 Mann unter Generalmajor von Kässenbruck, die den Franzosen den Übergang über den Rhein verwehrten, den sie wiederholt an der Loreley versucht hatten.
Am schlimmsten war für die Rheinfelser der Nachmittag des 27. Dezember 1692, als die Franzosen zum letzten Verzweiflungssturm ansetzten. Es wurde ein Heldenkampf von tragischer Größe, bei dem die Belagerten, als ihnen die Gewehre und Säbel zerbrachen, zum Teil sogar zu den alten mittelalterlichen Handwaffen, zu Sturmsensen und Morgensternen griffen, die sie sich aus der Rüstkammer holten. Der heldenmütige General Görz, der an der Spitze von 2 Kompanien zum fünften Male die Stürmenden mit dem Bajonett angriff, blutete aus mehreren Wunden, war von Pulver geschwärzt, die Augenbrauen, das Haar und die Uniform verbrannt, so daß er, wie es in einem Zeitbericht heißt, “gar schreckbar und grauserich anzuschauen war“.
Die Franzosen zogen sich mit furchtbaren Verlusten zurück, aber auch die Verluste der Belagerten waren nicht gering. Die nächsten Tage waren ruhiger, obwohl der Geschützkampf weiterdauerte. Die Verwundeten wurden nach St, Goarshausen und Bornich übergesetzt, weil es in der Festung an der geeigneten Pflege fehlte.
Die Franzosen, die sich an der ehernen Wacht am Rhein die Zähne ausgebissen hatten, wagten keinen Sturm mehr und begnügten sich mit zeitweiligen Beschießungen, die eine kräfige Erwiderung fanden.
Da – in der Neujahrsnacht – bemerkte man mit schier ungläubigen Augen, daß das französische Lager sich zum “Abreisen“ rüstete. Die Batterien verschwanden eine nach der andern und als man am 2. Januar 1693 von der Höhe der Feste Umschau hielt, da war das Staunen und nicht weniger die Freude groß. Der letzte Franzose war verschwunden und das ganze Gelände vom Feinde frei. Man fiel sich in die Arme. Victoria!
Der blutig errungene Sieg war da! Die Herren Franzmänner waren heimlich wieder nach Montoyal zurückgeschlichen und der “Sonnenkönig“ wartete vergeblich auf das Neujahrsgeschenk, das ihm Graf Tallard so siegessicher versprochen hatte.
Am gleichen Tage kam der Kasseler Landgraf mit dem Entsatzungsheer von Koblenz an, das nun nichts mehr zu tun fand. Der Sieg wurde in der St. Goarer Stiftskirche mit Gottesdienst und Dankgesang gefeiert und es ist anzunehmen, daß man in St. Goarshausen mit nicht weniger Andachtsgefühl dem Himmel für die Errettung aus schwerer Not gedankt hat. Die Verluste waren auf beiden Seiten schwer. Sie betrugen auf französischer Seite 4000 Tote und 6.500 Verwundete, während die Deutschen den Verlust von 564 Toten, darunter eine Reihe bester Offiziere, beklagten, wozu noch 885 Verwundete und Kranke kamen. Es waren für beide Städtchen schwere Tage, von denen sie sich nur langsam erholten. Bleibe noch zu erwähnen, daß General von Görz zum Dank für seine heldenmütige Tat zum lebenslänglichen Statthalter auf Rheinfels und zum Oberamtmann und Statthalter der Niedergrafschaft Katzenelnbogen ernannt wurde und daß Landgraf Karl von Kassel zur Erinnerung an die denkwürdige Belagerung drei silberne Denkmünzen schlagen ließ, von denen eine auf der Vorderseite das Bild von Rheinfels zeigt mit der Inschrift (In der Urprägung lateinisch): Frankreichs Neujahrsgeschenk“, während auf der Rückseite über dem Vater Rhein zu lesen ist: “Auch Deutschland hat seine Grenzen“. Eine andere Münze zeigt einen Hahn, der von einer Katze (Sinnbild der Burg Katz) zerrupft wird, mit der Inschrift: “Er kräht bloß, kämpft aber nicht“. Was allerdings nicht ganz stimmt, denn gekämpft hatten die Franzosen wie die Wilden.
Beide Festen, Rheinfels und Katz, die durch diese Belagerung zu einer europäischen Berühmtheit geworden waren, zeigten nach dem Abzug der Franzosen ein trauriges Bild wüster Zerstörung. Die Arbeiten zur Wiederherstellung wurden unter Leitung des Generals Görz sofort in Angriff genommen, aber erst 1716 beendet und erforderten einen Kostenaufwand von 1.120.438 Talern ohne die Freilieferungen und Fronen.
Auf Ludwig XIV. hatte die am Rhein erlittene Schlappe einen derartigen Eindruck gemacht, daß er sich herabließ, seinen Gegnern Friedensvorschläge zu machen. In dem für Deutschland so schmählichen Frieden von Ryswyk 1697 trat er nachhaltig für seine Schützlinge, die Landgrafen von Rheinfels-Rotenburg ein, die dann auch, unbeschadet der alten Rechte des Hauses Hessen-Kassel im Besitz der beiden Burgen Rheinfels und Katz veblieben. Trotzdem gingen die Katzbalgereien zwischen beiden Häusern weiter und hielten das Land in ewiger Unruhe.
Landgraf Ernst, dem der Verdruß über die von Kassel gegen ihn erhobene Anklage wegen Landesverrat sehr zugesetzt hatte, starb nach 44 jähriger Regierung 1693 zu Köln im 70. Jahre seines Lebens und wurde in der Klosterkirche zu Bornhofen beigesetzt, wo er sich schon zu Lebzeiten ein Marmorgrabmal hatte errichten lassen.
Er war der einzige der Rheinfels-Rotenburger, der bei allen seinen Fehlern einigermaßen Format hatte. Die ihm folgten: Wilhelm der Jüngere (1693 – 1725), Ernst Leopold (1725-1749), Konstantin (1749 – 1778), Karl Emanuel (1778 — 1812) und dann als letzter Viktor Amadeus (gestorben 1834) waren unbedeutende Landesväter, über die nicht viel zu berichten ist. Sie hielten sich meist fern von Rheinfels auf, wo es ihnen zu sehr nach Pulver roch, wohnten lieber in ihrem Schlößchen zu Bad Schwalbach, stelzten in Zopf und Haarbeutel herum und lebten von den Pfründen, die ihnen die rheinische Niedergafschaft abwarf. Zwischenzeitlich prozeßten sie mit ihren Kasseler Vettern lustig weiter, bis endlich der genannte Landgraf Konstantin sich entschloß, durch Vertrag vom 25. März 1754 den Kasselern das Eigentumsrecht auf Rheinfels und Katz zu übertragen und damit dem hundertjährigen Streit beider Häuser ein Ende zu machen.
Wir wollen diese “Querelles allemandes“, wie der Franzose die deutschen Katzbalgereien nannte, schamhaft übergehen, da sie dem deutschen Namen wirklich nicht zu Ehre gereichen, wollen auch, um den Leser nicht zu ermüden, die verschiedenen Anschläge, die in jenen Jahren wieder von den Franzosen auf unsere Burgen gemacht wurden, nicht weiter berühren, sondern nur den Gewaltstreich erwähnen, dem Rheinfels und die Katz, die alten unbesiegten Festen, im Siebenjährigen Krieg zum Opfer fielen.
Diesmal (1758) war es der durch seine Niederlage bei Roßbach berühmte Prinz von Soubise, der den Ehrgeiz hatte, die französische Schlappe von 1693, die die Herren an der Seine nun einmal nicht verwinden konnten, wieder wettzumachen. Zudem sah es der Onkel seiner Gattin, der bisherige Rheinfelser Landgraf Konstantin, gar nicht ungern, wenn den Kasseler Vettern eines ausgewischt würde. So kam Soubise zur richtigen Zeit. Diesmal war kein General Görz auf Rheinfels. Beide Burgen waren nur schwach besetzt, und so fiel es den Franzosen nicht schwer, die Städtchen St. Goar und St. Goarshausen zu überrumpeln. Die Katz wehrte sich zwar unter ihrem tapferen Kommandanten Hauptmann von Ende trotz ihrer armseligen Besatzung von 40 Mann drei Tage lang. Erst als der Schießvorrat ausgegangen war und keine Rettung mehr winkte, verließ er nachts die Katz und bewahrte somit sich und seine Leute vor der Gefangenschaft.
Vorher schon hatte sich Rheinfels dem Feind geöffnet. Die Glanzzeit der beiden Burgen war vorüber. Ihr Ruhmesglanz war dahin.
Die Franzosen blieben hier bis zum Hubertusburger Frieden von 1763, wo sie wieder abziehen mußten, nicht ohne vorher unsere Heimat gebrandschatzt und durch eine Pulverentladung die Stadt St. Goar um 30 Häuser gebracht und viele Menschen getötet zu haben.
So ging das bunte und wechselvolle 18. Jahrhundert seinem Ende zu. Das Rokoko trieb seine verschnörkelten Kapriolen, Zopf und Spitzenjabots, Perücke und Reifrock glitten tänzelnd über die schlüpfrigen Parketts der Schlösser und Salons, amouröse Menuetts durchwogten die lichterfunkelnden Säle, man liebte und scherzte, man schwamm in einem Meer von Flitter und Leichtsinn, während der Bürger und Bauer darbte und arbeitete, bis mit der französischen Revolution die Flut kam, die alles verschlang und auch dem Rhein ein völlig neues Gesicht gab.

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Die hier vorgestellten Ansichten entsprechen weder denen der Urheber dieser Internetseite noch möglicherweise dem modernen Stand der Geschichtsforschung.

Wir verweisen auf das einleitende Kapitel zur Erläuterung.