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Die neue Zeit

Die neue Zeit

Wie wir schon im geschichtlichen Teil ausführten, war die Herzoglich-nassauische Regierung von Anfang an bemüht, das Städtchen aus seinem jahrhundertelangen Dornröschenschlaf zu wecken und ihm neue Daseinsmöglichkeiten zuzuführen. Dank seiner bevorzugten Lage am Schnittpunkt wichtiger Verkehrsstraßen wurde das Städtchen Amtssitz des neugeschaffenen Amtes St. Goarshausen und erhielt damit zum erstenmal eine führende Stellung in einem geschlossenen Staatswesen. Auch in sozialer Hinsicht waren bedeutsame Verbesserungen erfolgt. Die Leibeigenschaft mit ihrer persönlichen Unfreiheit wurde abgeschafft und einige Jahre später die Freizügigkeit eingeführt. Man konnte sich wieder bewegen, ohne vorher die Genehmigung des Landesherrn anrufen zu müssen. Ebenso wurden die Zehnten und Gülten abgelöst und in geldliche Form gebracht. Vor allem aber war es die Bautätigkeit, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen ungeahnten Aufschwung nahm und der ganzen Stadt ein völlig neues Gesicht gab. Die alte Ringmauer, diese steinerne Klammer, die den Menschen Luft und Licht nahm, fiel. Die Stadt reckte die freigewordenen Arme wohlig nach allen Seiten aus. Auf dem Gelände zwischen Forst- und Hasenbach, wo der ungeschützten Lage wegen das Bauen vorher ein großes Wagnis war, entstand mit der Dolkstraße beginnend, allmählich ein ganz neuer Stadtteil, im Volksmund wie auch in alten Reisebüchern „Neubrückhausen“ genannt. Wer aus der Altstadt dorthin wollte, musste noch die schmale Steinbrücke überqueren, die bis 1840 über den damals noch offenen Forstbach führte. Denn noch immer bildete der offene Bach die westliche Grenze des alten Stadtteils.

Dieses wurde erst anders, als um 1840 mit der Errichtung der Rheinufermauer und dem Bau der Rheinstraße die Forstbachmündung überwölbt und damit der neue geräumige Marktplatz geschaffen wurde, der den alten ehrwürdigen Plan ablöste. Nur der alte Fruchtmarkt auf dem Gelände vor dem heutigen Rathaus blieb bestehen, bis auch dieser unter dem Zwang der neuen Verkehrsverhältnisse einging.

Die Erbauung der Rheinstraße in den Jahren 1848 – 50 hatte für die Altstadt eine völlige Neugestaltung der dem Rhein zugewandten Seite zur Folge. Die vorderen Häuser des Obertals, die bisher ihre Giebelseiten, also auch ihre Hauseingänge, in der inneren Gasse hatten, – eine andere Möglichkeit gab es der Mauer wegen nicht -, erhielten jetzt ihre Giebelseiten nach dem Rheinstrom zu. Sie wurden also sozusagen herumgedreht. Zu ihnen gehört auch das Geburtshaus des Verfassers, Rheinstraße 80. Nur ein kleiner Rest der Mauer blieb bis in die neueste Zeit hinein bestehen, wie, bereits zu Anfang erwähnt.

Im gleichen Zuge wurde der Weg nach Kaub und Wellmich ausgebaut, an dessen Stelle bis dahin nur ein schmaler Pfad dem Ufer entlang geführt hatte, der nur für Fußgänger und höchstens für einen Reiter dienbar war. Zwar war der neue Weg, im Gegensatz zu der Napoleonischen Heeresstraße auf der linken Rheinseite, nur ein sogenannter Vizinalweg, also eine zweitklassige Straße und erst der neuesten Zeit war es vorbehalten, sie zu einer regelrechten Fahr- und Autostraße zu erweitern. Von nicht geringerer Bedeutung war in den Jahren 1836-40 der Ausbau der Forstbachstraße nach Bornich und die Schaffung des neuen Marktplatzes, der, wie schon erwähnt durch die Überwölbung der Forstbachmündung gewonnen wurde.

Ihnen folgte als Wichtigstes der Ausbau der Hasenbachstraße, die endlich die Postwagenverbindung mit dem Hinterland ermöglichte und einen lebhaften Warenverkehr im Gefolge hatte, (Siehe aus Kapitel “Post- und Verkehrswesen“!)

Das Jahr 1824 hatte das Erscheinen des ersten Rheindampfers gebracht. Es war der Auftakt zu der bahnbrechenden Umwälzung, die das ganze Schifffahrtswesen durch den Dampf erfuhr. (Siehe Kapitel „Schifffahrt und Schifferleben“ !)

Aber noch fehlte dem ganzen Verkehrswesen hier der Schlußstein: die Bahn. Auch diese Frage fand schließlich ihre Lösung. In den Jahren 1857 – 1862 wurde die nassauische Eisenbahn gebaut. Allerdings gingen langjährige Überlegungen und Verhandlungen seitens, der Regierung voraus, denn die Sache war nicht so einfach. Es war ein Unternehmen, das selbst klugen Leuten als ein großes Wagnis erschien. Hatte man doch noch 1833 in den „Frankfurter Jahrbüchern“ die Anlage von Eisenbahnen als vollendeten Blödsinn bezeichnet. Und das Bayerische Obermedizinal-Kollegium hatte in seinem Gutachten gar einen wahren Hilferuf ausgestoßen, indem es schrieb: „Der Fahrbetrieb mit Dampfwagen ist im Interesse der öffentlichen Gesundheit zu untersagen, indem die schnelle Bewegung bei den Passagieren unfehlbar eine Gehirnkrankheit erzeugt, welche eine Art von „Delirium tremens“ bildet. Wollen die Fahrenden sich trotzdem dieser Gefahr aussetzen, so müßte der Staat wenigstens draußen die Zuschauer schützen durch Errichtung einer mindestens 5 Ellen hohen, Bretterwand zu beiden Seiten des Bahnkörpers, da der bloße Anblick des Zuges schon jene Gehirnkrankheit erzeugen würde.“

Kein Wunder, daß, als im Februar 1862 der erste Zug in St. Goarshausen einlief, das ganze Städtchen auf den Beinen war. Hatte man nicht gehört, daß bei der ersten Probefahrt der Taunusbahn zwischen Wiesbaden und Frankfurt der Zug unterwegs hilflos stehen geblieben und daß bei der zweiten Versuchsfahrt die Lokomotive sogar aus dem Gleis “gehippt“ war? Furchtbar! und in dem engen Rheintal war die Gleisführung noch viel gefährlicher. Ob da wirklich so alles glatt ging? Und ob der Loreley-Tunnel, den man schon am 4. November 1860 im „Adler“ gefeiert hatte, wirklich standhielt? Aber siehe da, es ging alles glatt. Die Menschen jubelten dem glücklichen Zugführer zu, labten ihn mit einem deftigen Schoppen und freuten sich, dass nunmehr auch das alte Städtchen St. Goarshausen an das große europäische Eisenbahnnetz angeschlossen war.

In wirtschaftlicher Hinsicht hatte der Bahnbau mit seinen Hunderten von Arbeitern unserem Städtchen mancherlei Verdienstmöglichkeiten gebracht. Namentlich waren es die Wirte, die nicht zu klagen hatten, denn wie alte Berichte melden, soll es in den Schenken abends oft hoch hergegangen sein, sind einmal nicht nur Musikanten, sondern auch Maurer durstige Leute. Nach dem Loreley – Durchstich wurde für sie sogar ein eigener Ball in der „Stadt Mannheim“ gegeben.

Auf der anderen Seite waren die Opfer seelischer Art, die die Bürgerschaft bei dem Bahnbau zu bringen hatte, nicht gering. Die dreihundertjährige denkwürdige Kirche samt dem alten Kirchhof, sowie eine Reihe von Häusern am Fuße des Katzenbergs fielen zum Leidwesen der Alten der Spitzhacke zum Opfer. Aber diese Opfer wurden aufgewogen durch den tröstlichen Gedanken, daß uns damit das Schicksal so vieler anderer Rheinstädtchen erspart geblieben ist, denen der Bahndamm vor die Nase gesetzt wurde und die damit von neuem hinter eine Mauer gerieten. So haben wir unser wunderbares Rheinantlitz behalten und der Vater Rhein ist uns für immer ein treuer Begleiter geblieben.

Durch den Bahnverkehr erfuhr naturgemäß die Unternehmungslust am Orte eine mächtige Anregung. Die bisher am Ausgang des Hasenbachtales bestandene Urban’sche Wirtschaft „Zum grünen Baum“ mit Stallung und Kegelbahn kam in Wegfall. Dafür entstand um den erhöhten Bahnhofsplatz eine Reihe neuer Gasthöfe das Colonius’sche Haus „Zur Post“, später „Zur Rheinlust“ genannt, der „Hohenzoller“, erbaut von Georg Klein und andere Geschäftsbauten. (Siehe Kapitel „Von der Herberge zum Gasthof“ !)

Ebenso brachte der durch die neuen Talstraßen ins Leben gerufene Frachtverkehr aus dem nassauischen Hinterland einen gewaltigen Aufschwung, der zur Hebung des St. Goarshäuser Wirtschaftslebens nicht wenig beitrug. Mit dem Krieg von 1866 kam der politische Umschwung. Das Land Nassau wurde preußisch. Damit begann für St. Goarshausen der vierte Wendepunkt seiner Entwicklung. Die Stadt gehörte nunmehr einem zielbewußt geleiteten Staat an, an dessen mächtigem Aufschwung sie Teil hatte. An allen Enden regte sich neues Leben. Auch der Trajektverkehr mit der Schwesterstadt St. Goar, der bisher nur mit Nachen betrieben wurde, wobei aber der St. Goarer Färjer niemand von der St. Goarshäuser Seite, und umgekehrt der St. Goarshäuser Färjer beileibe keinen von der „eebsch Seit“ mitnehmen durfte, sondern leer zurückfahren mußte, – alles dies erhielt ein neues Gesicht durch die neuentstandene Dampffähre. (Siehe Kapitel „Rheinfähre“ !)

Einen neuen gewaltigen Impuls brachte der siegreiche Krieg von 1870 – 71. Bahn und Schiffsverkehr vergrößerten sich von Tag zu Tag. St. Goarshausen wuchs in die Länge. Unterhalb des Bahnhofs nach Wellmich hin entstand ein – ganz neues Viertel mit stattlichen Häusern und Gärten. An der Stelle des alten dürftigen Hafens vor der Bleiche wurde durch Aufschüttung des Geländes der Rhein um etwa 50 Meter zurückgedrängt und damit ein vorzüglicher Ankerplatz für Frachtschiffe geschaffen.

Eine einschneidende Neuerung brachte das Jahr 1885. St. Goarshausen, nachdem es 70 Jahre lang Amtsstadt gewesen war, wurde Hauptort und Mittelpunkt des neugebildeten Kreises St. Goarshausen und damit Sitz eines Landratsamtes und einer größeren Zahl weiterer neuer Verwaltungsbehörden, zu denen sich später auch das Finanzamt gesellte.

In den 1880er Jahren begann auch die Bebauung der Gärten, die bisher nich zwischen der Allee und der Straße bestanden und die noch einen Rest des alten Obstgeländes bildeten. Es entstanden der neue „Rheinische Hof“, die Landesbank-Filiale, die Post, das Landratsamt, neue Institutsgebäude usw.

Aber wie es immer im Leben geht: das Bessere ist des Guten Feind. So auch hier. Mit jener Bebauung fiel außer den Gärten auch die alte, prächtige Kastanienallee. Und um die ist’s ewig schade. Mit ihren breitkronigen, grünschattigen Bäumen, ihren geruhsamen Bänken, über die sich im Frühling ein wahrer Blütenrausch von roten und weißen Lichtern wölbte, war sie des „Buen Retiro“ St.Goarshausens, darin zu wandeln eine wahre Lust war. Was jetzt noch davon steht, sind nur kümmerliche Bauminvaliden.

Im Jahre 1900 folgte die Eröffnung der durch das Hasenbachtal führenden Nassauischen Kleinbahn, die St. Goarshausen mit dem nassauischen Hinterland verband und die auf dem neuen Gelände vor der ehemaligen Allee ihre Haltestelle errichtete. Sie wurde weitergeführt über die Rheinstraße nach dem im Jahre 1891 erbauten neuen Loreleyhafen hin.

Über den Wert oder Unwert dieser Kleinbahn sind gewaltige Geisteskämpfe ausgefochten worden. Die Bahn mag zur Erschließung des nassauischen Hinterlandes viel beigetragen haben. Trotzdem haben sich die hochfliegenden Hoffnungen, die namentlich von dem Geburtsvater der Bahn, dem verstorenen Landrat Berg, vertreten wurden, nicht erfüllt, wenigstens nicht, soweit man von den wirtschaftlichen Belangen St. Goarshausens und der Erhaltung seiner landschaftlichen Schönheit sprechen kann. Schon sofort nach dem Entstehen der Kleinbahn hörte der bis dahin bestehende gewaltige Fuhrverkehr von den Dörfern nach St. Goarshausen auf. Infolge der Verzweigung der Bahn nach anderen Orten des Rheins und der Lahn nahm der Warenverkehr ganz andere Wege. Der Bahnhofsplatz, der früher an Wochetagen von Getreide- und Obstfuhren überfüllt war, verödete und das Wirtschaftsleben erlitt eine empfindliche Einbuße. Wohl kann man ins Treffen führen, daß der Personenverkehr nach dem Hinterland durch die Kleinbahn eine große Erleichterung erfuhr, aber seit der Einführung der Kraftpost spielte dieser so gut wie keine Rolle mehr.

Das Schlimmste aber war die Gleisführung über die an sich schon enge Rheinstraße. Was deren Anwohner sagten, wenn die Puffbahn vorbeirumpelte, die Häuser mit Ruß und Dreck bewarf und die Menschen von der Straße jagte, das wollen wir hier lieber verschweigen. Es war ein glücklicher Gedanke, daß mit Rücksicht auf den Kraftwagenverkehr das Gleis bei dem Ausbau der Straße nach dem Rhein hin vorverlegt und gesenkt wurde, wodurch die Verkehrsgefahren beseitigt sind. Aber ein Danaergeschenk bleibt es trotzdem.

Der neue Loreleyhafen, den die Kleinbahn im Gefolge hatte, hat sich im Winter, wenn der Rhein mit Eis geht, wohl als nützlich erwiesen, wie schließlich alle Häfen. Aber mußte er unbedingt an diese Stelle? Hat nicht auch die Schönheit der Landschaft ihre Gesetze? Zumal an einer Stelle, die von der rheinischen Romantik gewissermaßen geheiligt ist? Wer das wunderbare Uferprofil kannte, das der Strom gerade an dieser Stelle hatte, wird es dem Chronisten nicht verargen, wenn er die Verschandelung seiner Heimt beklagt.

Ach ja, die von der Technik so viel verpönte Romantik! Als der Vater Rhein noch nicht das steinerne Korsett trug, da befand sich am oberen Ende der Stadt, wo heute sich die Holz- und Kohlenberge türmen ein schmales Sandufer, an dem wir Buben im heißen Sommer – natürlich „in naturalibus“ – badeten und die Luft mit unserem übermütigen Gejuchze erfüllten. Von der einen Seite schaute uns die Katz von der andenren die Loreley zu, und vor uns wälzte sich der schimmernde, königliche Strom. Die Erde hatte keinen herrlicheren Platz für uns als diesen. Über die Uferböschung hingen langrankige Heckenrosen, am Rande blühten blauer Wegwart und gelber Rainfarn, und darüber torkelten die bunten Schmetterlinge. Am Wegrand aber, noch unbedroht von Kraftfahrzeugen und Motorrädern, saßen Maler und Malerinnen aus aller Herren Länder mit ihren Staffeleien, und wir Buben standen dahinter und schauten mit erstaunten Augen zu, wie auf der Leinwand mit wenigen Pinselstrichen die Katz entstand und der schartige Turm, die blauschiefrigen Häuser der Altstadt, der Rhein mit dem sommerlichen Himmel darüber, und wir empfanden da zum ersten Male, wie schön unsere Heimat ist. Dann aber rasselte an jener Stelle der hohe elektrische Kran, haushohe Ladungen von Nutzhölzern, Kohlen und Steinen poltern nieder, Bahnwagen schlenkern vorbei und statt der Rosen blühen blumige Schifferworte in der Luft.

Nach dieser Abschweifung, die wir uns gestattet haben, weil wir der Ansicht sind, daß man über dem nützlichen Neuen auch das gute Alte nicht vergessen soll, kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Wir gedenken der friedevollen Jahre, die unserem Städtchen in den letzten zwanzig Jahren des Kaiserreichs beschert waren, bis dann die Wind- und Wolfszeit hereinbrach, von der die Edda spricht. Der Weltkrieg kam und mit ihm all das Furchtbare, das er im Gefolge hatte: Zusammenbruch, Rückzug, Besatzung, schwarze Schmach, Verfolgungen, Separatistenputsch, Geldentwertung, Arbeitslosigkeit, Not und Elend. Aber wie hundert Jahre vorher, bei der ersten Franzosenzeit, so hielt auch bei der zweiten die Heimat trotz aller Bedrückung tapfer durch. Dem Vaterland blieb ihre Treue und ihre Liebe. Wir haben über diese Jahre im geschichtlichen Teil ausführlich berichtet, so daß wir sie hier nur zu streifen brauchen.

Nur einige Tage der Freude und des Aufatmens sei hier gedacht. Mitten in der Besatzungszeit, am 27. und 28. September 1924, feierte St. Goarshausen das 6oo jährige Gedenkfest seiner Stadtwerdung. Es war eine in bescheidenem Rahmen gehaltene schöne und würdige Feier, die all die Not für einige Zeit vergessen ließ. Über den Verlauf der Feier hat die “Neue Wiesbadener Zeitung“ wie folgt berichtet:

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Die hier vorgestellten Ansichten entsprechen weder denen der Urheber dieser Internetseite noch möglicherweise dem modernen Stand der Geschichtsforschung.

Wir verweisen auf das einleitende Kapitel zur Erläuterung.